Der Stein
(Ernst-Joachim Kähler, veröffentlicht im 4. Mitteilungsblatt der Gesellschaft für Friedrichstädter Stadtgeschichte, S. 33-40)
Generationen von Kindern haben auf ihm gespielt, Schuljungen benutzten ihn zu gewagten Experimenten, verschiedene Menschen lassen sich bisweilen auf ihm zu einer kurzen Rast nieder. Aber nur wenige wissen, dass der lange Findling unter den Linden vor dem Hause Mittelburgwall 34, für die früheren Hausbesitzer einen bedeutenden symbolischen Wert gehabt hat und dass er in Verbindung steht mit einer über ein halbes Jahrhundert andauernden gerichtlichen Auseinandersetzung der Stadt Friedrichstadt mit den Kaufleuten Schütt.
Im Stadtarchiv befindet sich eine umfangreiche Akte über den Prozessverlauf und den Streit um das Benutzungs- und Lagerungsrecht an der Böschung zum Mittelburggraben. Die Beschäftigung mit diesem Prozess vermittelt uns interessante Einblicke in das Verhältnis zwischen Bürgern und Verwaltung vor 100 Jahren und erscheint aktuell hinsichtlich der heutigen Verwendung der Uferstreifen durch die Anlieger.
Die Geschichte beginnt nach der Beschießung Friedrichstadts (im Jahre 1850). Die Bürger hatten auf den Grasflächen und den öffentlichen Plätzen der Stadt die zum Wiederaufbau ihrer Häuser notwendigen Materialien gelagert. Der Magistrat, der befürchtete, dass daraus ein Gewohnheitsrecht entstehen könnte, erließ am 15. März 1859 eine polizeiliche Verordnung, wonach die Lagerung von Materialien „bei namhafter Brüche für die Zukunft untersagt“ wurde; lediglich das Bleichen der Wäsche sollte noch auf den Rasenflächen gestattet sein. Die Bürger - zur Räumung innerhalb von drei Wochen aufgefordert - leisteten der Anweisung Folge, außer Jelle Janszoon Schütt jr., Holzhändler und deputierter Bürger der Stadt.
Schütt war als Sohn des 1820 in Friedrichsstadt zum Bürgermeister gewählten Jan Jelle Schütt am 11.11.1802 in Nes auf der westfriesischen Insel Ameland geboren. Er starb im Januar 1895 in Friedrichstadt, war Mitglied der Mennonitengemeinde und ein angesehener Geschäftsmann.
1832 hatte er sich mit einem eigenen Holz-und Baumaterialiengeschäft selbstständig gemacht. 1840 errichtete er drei neue Kalköfen und baute drei Jahre später hinter seinem Wohnhaus (V. Quartier, Nr. 5; jetzt Mittelburgwall 34) einen noch heute erhaltenen Hochspeicher (Anm.: dieser wurde 1981 abgerissen). 1850 breitete er sein Eisengeschäft weiter aus und kaufte das Haus Westersielzug 12 (V. Quartier, Nr. 38) hinzu. Auf dem Gelände vor seinen beiden Häusern lagerte Schütt Holz und Mühlsteine. Einem zweiten Räumungsbegehren vom 13.4.1859 begegnete Schütt mit Eingaben und Beschwerden an den Magistrat und die vorgesetzten Behörden, die Königliche Oberdirection und das Königliche Ministerium für das Herzogtum Schleswig und berief sich auf das Friedrichstädter Stadtrecht (Polizeiverordnung I, XI, 5, 2):
„ Es mag keiner dem andern Bürger seine Kay vor seinem Haus oder Erbe mit Holz, Stein oder andern Sachen occupiren oder belegen, sondern ist schuldig, desselben Consens dazu zu ersuchen, und ihm seinen Willen dafür zu machen.“ [1]
Daraus leitete Schütt die Behauptung ab, dass jeder Bürger zur beliebigen Benutzung des vor seinem Hause liegenden Feldes berechtigt sei. Lediglich diejenigen Flächen, die von den Einwohnern nicht selbst zur Lagerung beansprucht würden, könne die Stadt verpachten. Das Ministerium in Schleswig billigte das Vorgehen des Magistrats, doch stellte es Schütt anheim, eine gerichtliche Entscheidung zu erwirken.
Am 15. August 1860 kam es entsprechend der damaligen engen Verbindung zwischen Justiz und Verwaltung [2] zu einer Verhandlung vor dem Magistrats-Gericht in Husum (Bürgermeister Grüner).
Hier wurde nun die Frage behandelt, wer der Eigentümer des Böschungsgeländes in Friedrichsstadt sei. Während Schütt darauf hinweisen konnte, dass seine Vorbesitzer (der Senator Henning Timm und der Kaufmann Nikolaus van Deuren) den Platz ungehindert schon seit 1783 zum Holzlagern benutzt hätten und dass die Unterhaltung der Kaianlagen den anliegenden Hausbesitzern zukomme, und damit ein Eigentumsrecht an der Böschung nachweisen wollte, erklärte der Vertreter der Stadt, dass das betreffende Gebiet zur „Stadtbinnengräsung“ gehöre. Seit alters her wurden vom 1. Mai bis Martini (11. November) diese Felder von den Stadtkollegien mit Genehmigung der Regierung öffentlich zum Gräsen und Mähen verpachtet und die jährliche Pacht an den Stadtpfennigmeister in Friedrichstadt entrichtet. Weiterhin dienten diese Gebiete als „Kais zum Laden und Löschen der Fahrzeuge und zur Befestigung der Anker und Taue der in den dortigen Sielzügen und Gräben liegenden Schiffe“. Die Kais gehörten seit der Gründung der Stadt allen Bürgern, erst seit 1635 seien alle städtischen Immobilien durch herzoglichen Rezeß zu zwei Dritteln in den Besitz der Landesherrschaft gelangt, in dessen Vertretung die Stadt Aufsicht, Verwaltung und Abrechnung der Pachtsumme wahrnehme. Artikel I, XI, 5 des Stadtrechts diene lediglich dazu, den für die Unterhaltung des Kaistücks zuständigen Hausbesitzer vor Schäden durch Lagerung von Materialien durch andere zu schützen. Das Gericht schloss die Verhandlung mit der Aufforderung an Schütt nachzuweisen, dass er und seine „Besitzvorweser“ in einer Zeit von 30 Jahren vor dem Tage des Räumungsbefehles (13.04.1859) mit Wissen des Eigentümers das Feld zwischen Linden und Burggraben zur Lagerung benutzt hätten.
Damit verschob sich der Schwerpunkt der Untersuchung immer mehr auf die Frage, ob das Nutzungsrecht durch die Hauseigentümer ununterbrochen ausgeübt worden war. Man ging dabei von Artikel II, XXI, 13 des Friedrichstädter Stadtrechts aus:
„Wann aber Forderung wegen unbeweglicher Güter .... angestellt und Beklagter zuvor um gerührter Güter oder von dem gemeinen Gut ... in dreißig Jahren nicht besprochen, noch vor Gericht citirt, auch auf andere Wege in vorgemeldter Zeit in mala fide nicht constituirt wäre, so soll auf solchen Fall der Kläger mit seiner Forderung abgewiesen und fällig erkannt werden; damit also ein jeder auf das seine desto besser Acht habe, und die rerum dominia oder Eigenthum so viel eher in Gewisheit gesetzet werden möge.“
1862 scheint Schütt durch Zeugen den Beweis für eine ununterbrochene Benutzung angetreten zu haben. Dagegen wollte die Stadt durch den früheren Stadtpfennigmeister Schnittger bestätigen lassen, dass zumindest während der Jahre 1830/1831 in der Zeit des Besitzwechsels, also nach dem Tode des Vorbesitzers Timm und dem Ankauf des Geschäftes durch Schütt, eine Holzlagerung nicht stattgefunden hätte. Das Haus war damals als Krankenstation für Soldaten eingerichtet worden, die an der Eider als Wachmannschaften gegen das Eindringen einer Cholera-Epidemie eingesetzt worden waren. Dem Rechtsanwalt der Stadt, Schmidt von Leda, war offensichtlich dieser Einwand nicht schwerwiegend genug, denn im Oktober 1864 lesen wir, dass er zu einem Vergleich rät, um unnötige Kosten zu sparen.
Wie sehr der Magistrat in dieser Auseinandersetzung mit Schütt einen Präzedenzfall sah und wie sehr er eine endgültige gerichtliche Entscheidung erstrebte, geht daraus hervor, dass die Stadt nach der Annexion durch Preußen und der damit verbundenen Umgestaltung des Gerichts- und Verwaltungswesens den Fall erneut aufrollte und vor das Schleswiger Kreisgericht brachte. Dieses entschied am 19.3.1868 gegen Schütt. Nachdem Schütt darauf vor das Königliche Appellationsgericht in Kiel gegangen war, urteilte hier der Zivilsenat, dass Schütt berechtigt sei, vor seinem Hause Nummer 5 im V. Quartier „Holz und dergleichen“ zu lagern, da eine Unterbrechung der Verjährungsfrist nicht habe festgestellt werden können. Der Magistrat wollte sofort in die Berufung gehen und den Fall vor das höchste zuständige Gericht in Berlin, das Königliche Oberappellationsgericht bringen. Eine entsprechende Eingabe (13.12.1868) um finanzielle Unterstützung wurde von der preußischen Regierung aber abgewiesen. Zweifellos schien J. J. Schütt sein Lagerungsrecht endgültig bestätigt bekommen zu haben. Drei Jahre später (1871), nach dem Tode seiner zweiten Frau, gab Schütt das Geschäft an seinen Sohn Gerhard ab. Damit beginnt ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung um das Lagerungsrecht.
Im Namen des Königs
„In Sachen des Holzhändlers J.J. Schütt jun. In Friederichstadt, Kläger und Appellanten, wider den Magistrat der Stadt Friederichstadt, Verklagten und Appelaten, und das Königliche Obersachwalteramt, Namens der Allerhöchsten Staatsregierung, Intervenientin und Appelatin, betreffend Anerkennung seines Rechts auf Benutzung der vor seinen Häusern No 5 du No 38 im 5ten Quartier der Stadt Friederichstadt belegenen Feldes zur Lagerung von Holz usw., jetzt Appelatin gegen das Erkenntniß des Schleswiger Kreisgerichts vom 19/29ten März 1868.“
1885-1888 wurde die Eisenbahnbrücke über die Eider gebaut. Gerhard Schütt hatte aus dem Brückengerüst Balken angekauft und sie 1887 vor seinem Haus gelagert, um sie als Brennholz zu verkaufen. Einer Aufforderung des damaligen Bürgermeisters Wiese zur sofortigen Räumung hat Schütt, wie wir aus einem Rapport des damaligen Stadtwachtmeisters Panten vom 09.01.1888 erfahren, zwar Folge geleistet, dabei wohl aber auf das Urteil von 1868 hingewiesen. Etwa um 1895 übergab Gerhard Schütt das Kohlengeschäft an seinen Sohn Reginald. Gerhard Schütt wohnte, wie schon sein Vater, als Rentner im Hause V.5 und lagerte auf der Böschung sein Boot im Winter, außerdem Wagen und Wagenleitern und Holzgestelle zum Wäschetrocknen.
Gehorsamster Rapport
Daß der Kaufmann Gerhard Schütt hieselbst, vor seinem Hause auf dem Rasenplatz am Mittelburggraben 11 hölzerne Balken liegen hat.
Panten, Stadtwachtmeister
Die Stadt sah nun im Jahre 1907 die willkommene Gelegenheit, gegen das Urteil von 1868 mit der Begründung vorzugehen, dass das Lagerungsrecht praktisch zehn Jahre lang nicht ausgeübt worden sei. Am 02.12.1907 wurde die Stadt aber mit ihrer Klage vor dem Amtsgericht Friedrichstadt abgewiesen. Sogleich legte der Magistrat am 11.1.1908 Berufung ein. In der Verhandlung vor der ersten Zivilkammer des königlichen Landgerichts in Flensburg wurden etliche Zeugen aufgeboten, die sich zu der Frage äußern sollten, ob und was gelagert worden war. Bürgermeister Voss fand Unterstützung in Lehrer Thedens, der 1884-1904 an der Schule am Mittelburgwall tätig gewesen war („in den Schulpausen pflegten wir Lehrer am Mitteburggraben hin und her zu spazieren) und der 1887-1893 im Schütt´schen Hause gegenüber wohnte. Dieser wie auch Kohlenhändler Henning und Julius Lebens, der in der Zentralhalle (Friedrichstädter Hof) bis 1893 lebte, hätten außer Wagen vor dem Kohlengeschäft der Schütts und dem Gewese des Wagenbauer Carstens (jetzt Mittelburgwall 34) niemals Holz oder Brennmaterial auf der Böschung gesehen. Dazu äußerte Schütts Rechtsanwalt Liedtke, Thedens sei als Lehrer von der Stadt abhängig. Voß entgegnete, „man solle meinen, dass gerade ein Lehrer als wahrheitsliebend zu bezeichnen ist“.
Schütt erwähnte in seinen Gegenargumenten nun auch den Stein. Angeblich dokumentiere dieser seit 1840/1850 das Nutzungsrecht. Aber Bürgermeister Voß wusste auch diesen Beweis schnell zu entkräften. Der Stein deute keineswegs auf eine Grunddienstbarkeit hin, denn er befinde sich zwischen den Bäumen statt auf dem Grundstück des Lagerplatzes: „In früheren Zeiten wurde mangels guter Wege in der Marsch mehr geritten als gefahren und deshalb hat mit viel Wahrscheinlichkeit der Stein den Zweck gehabt, den Reitern das Aufsteigen aufs Pferd bequem zu gestalten.“
Jedenfalls schienen dem Gericht Schütts Zeugen glaubwürdiger zu sein. Die ehemaligen Lageristen Carl Adam und Fritz Christiansen sowie Schütts alter Knecht Peter Schubert bekundeten, dass Schleifsteine und Bauholz für den Bahnhofschuppen lange Zeit dort gelegen hätten und ebenso Stabeisen, das auf dem Wasserwege herantransportiert und dann treeneaufwärts weiter gebracht worden sei.
Am 28.12.1908 erging das endgültige Urteil im Rechtsstreit Stadt Friedrichstadt gegen den Rentner Gerhard Schütt. Die Stadt wurde mit ihrer Klage kostenpflichtig zurückgewiesen, da Schütts Privatrecht durch Nichtgebrauch nicht erloschen sei, weil das Urteil von 1868 von „Holz und dergleichen“ gesprochen habe.
Der gesamte Prozessverlauf zeigt, mit welcher Hartnäckigkeit beide Parteien bei ihrer Auffassung blieben. Verständlich, handelte es sich doch um eine grundsätzliche Frage, die weit über den privaten Bereich hinausging. Was nun den Stein betrifft, so lässt sich nicht eindeutig feststellen, wann und von wem er dorthin gelegt worden ist. Doch liegt die Vermutung nahe, dass J.J. Schütt jr. im Verlaufe der ersten Prozessfolge, das heißt in den Jahren 1859-1868 den Stein als Beweisstück seines Lagerungsrechts dorthin geschafft habe.
Wenn er auch heute seine frühere Bedeutung verloren hat, so kann er doch als gewichtiger Zeuge einer Begebenheit aus der Friedrichstädter Geschichte angesehen werden
[1] Corpus Statuorum Slesvicensium, Schleswig 1799, 3. Band.
[2] Die Trennung von Justiz und Verwaltung erfolgte erst nach der Einverleibung in Preußen durch die Verordnung vom 26.06.1867 am 01.09.1867. Damals verschwanden neben den alten Volksgerichten (Hardesgerichte) auch die städtische und die Patrimonialgerichtsbarkeit. Es gab dann Amtsgerichte, 5 Kreisgerichte und das Appelationsgericht in Kiel.